"Nachdenklicher Blick in die Zukunft und deren anstehenden Fragestellungen"

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

in nur wenigen Bereichen der Medizin gab es in den letzten Jahren eine solche Dynamik wie in der Humangenetik. Beispielhaft sei hier die komplette Entschlüsselung des menschlichen Genoms genannt. Während vor 50 Jahren dies noch eine Fiktion war, wurde dann 1990 das Humangenomprojekt gestartet und im Jahre 2001 konnte die komplette Entschlüsselung verkündet werden (allerdings doch noch nicht zu 100 Prozent – dies wurde erst 20 Jahre später erreicht). Möglich war das Ganze nur durch eine technische Revolution, die es ermöglichte, die etwa drei Milliarden Basenpaare zu sequenzieren. In der Folge wurde dieser Prozess nicht nur viel schneller (was v. a. durch den Einsatz immenser Rechenleistung möglich war), sondern auch dramatisch kostengünstiger. Während für die Entschlüsselung des menschlichen Genoms 2001 noch 95 Millionen US-Dollar benötigt wurden, waren es 10 Jahre später nur noch 21.000 und nach weiteren 10 Jahren nur noch 550 US-Dollar.

Ich denke, diesen Preisverfall hatte so niemand vorhergesehen.

Im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung geht es natürlich nicht um das menschliche Genom an sich, sondern um die Suche nach Mutationen, welche eine Krankheitsrelevanz haben. Für immer mehr schwere erbliche Krankheiten (und nur auf diese beziehe ich mich unter bewusster Aussparung der Tumorgenetik im Folgenden) werden die zugrundeliegenden Mutationen detektiert. Die Zahl der erforderlichen humangenetischen Untersuchungen steigt damit dramatisch an und es ist zu befürchten, dass auch hier (neben den immensen Kosten der modernen Gentherapeutika) die gesetzliche Krankenversicherung finanziell überfordert werden könnte – wohl wissend, dass man diese Untersuchungen den betroffenen Patienten natürlich nicht vorenthalten kann oder will. Deshalb muss unbedingt eingefordert werden, dass eine sehr strenge Indikationsstellung erfolgt und hierfür auch die Ärzte, die humangenetische Untersuchungen vornehmen, in Mitverantwortung genommen werden. Nicht immer geht der Untersuchung eine genetische Beratung voraus und nicht jeder Zuweiser ist in der Lage, das Erfordernis der humangenetischen Untersuchung und die ausgelösten Kosten ausreichend einschätzen zu können. Außerdem muss im höheren Maße als bisher diese Leistungserbringung transparent werden. So wäre z. B. zu fordern, dass für jedes neue Medikament, vor dessen Anwendung eine gezielte Mutationssuche erforderlich ist, eine separate Abrechnungsziffer geschaffen wird (dies sollte dann auch für die Tumorgenetik gelten). Des Weiteren muss gesichert sein, dass auch nur nach der/den in der Zulassung genannten Mutation/-en gescannt wird. Alles Weitere wäre dem Bereich Forschung zuzuordnen und nicht durch die GKV zu finanzieren, im Gegensatz zur o. g. streng indizierten Mutationssuche, die die GKV auch extrabudgetär zu finanzieren hat.

Das ist im Übrigen momentan nicht der Fall!

Lassen Sie mich an dieser Stelle noch eine Zukunftsvision skizzieren.

Sollte es möglich werden, auch die Mutationssuche noch weiter bezüglich der Kosten drastisch zu optimieren, wäre folgendes denkbar:

Allen Frauen mit Kinderwunsch wird eine komplette Mutationssuche nach allen bekannten, autosomal-rezessiv vererbbaren, schweren Erkrankungen angeboten. Falls eine solche Mutation festgestellt wird (was nur die seltene Ausnahme sein wird), erfolgt auch die Untersuchung des potentiellen Vaters. Im Falle eines Matches – also beide (potentiellen) Eltern weisen die gleiche Mutation auf – könnte man mittels In-vitro-Fertilisation und Präimplantationsdiagnostik das (25 Prozent betragende) Risiko der Geburt eines schwerstkranken Kindes ausschließen. Wenn diese Untersuchung pro Elternteil nur noch angenommen 1.000 Euro kosten würde, entstünden selbst bei 100-prozentiger Inanspruchnahme dieses Angebotes jährlich in Deutschland Gesamtkosten in Höhe von nur etwa 750 Millionen Euro. Das Procedere nur auf die Fälle von Konsanguinität anzuwenden, wäre zwar wegen des deutlich häufiger zu erwartenden Matches effektiver, aber eigentlich eher nicht vertretbar. Die Untersuchung der (potentiellen) Mutter sollte natürlich auch auf die X-chromosomal vererbbare Hämophilie ausgeweitet werden, denn hier bestünde nicht nur die Möglichkeit, den Ausbruch der Erkrankung bei männlichen Nachkommen auszuschließen, sondern auch die Weitergabe an weibliche Nachkommen (Konduktorinnen) zu vermeiden und damit diese Mutation innerhalb von nur einer Generation zu beenden (abgesehen von dem etwa einen Drittel spontaner Mutationen). Momentan haben die erkrankten Kinder, wenn es überhaupt eine wirksame (dann meist extrem teure und auch nebenwirkungsbehaftete) Therapie gibt, in den allermeisten Fällen eine starke Einschränkung der Lebenserwartung und natürlich auch der Lebensqualität. Besonders das Leid der betroffenen Eltern könnte vermieden werden. Spontanmutationen und z. B. die Trisomie 21 (die keine Erbkrankheiten im engeren Sinn sind) kann man natürlich so nicht vermeiden und diese auszuschließen, würde weiterhin einen Pränataltest erfordern (auch mit den dazu bekannten Gegenargumenten). Aber auch wenn das skizzierte Procedere die Diskussion eines ansonsten möglicherweise erforderlichen Abruptio generell obsolet macht, werden auch ethische Aspekte berührt, denn die Nutzung einer solchen Chance wäre natürlich zweifellos Eugenik. Allerdings in ihrem besten und humansten Sinn.

Ganz deutlich: Dies ist eine Vision, die möglich wird, wenn genetische Untersuchungen sehr viel preiswerter zu erbringen sind. Die gesellschaftliche und ethische Diskussion darüber ist natürlich vorher zu führen!

Zum heutigen Zeitpunkt gibt es allerdings noch gar nicht die Notwendigkeit, diese Diskussion zu führen, denn eine solche Idee würde momentan noch an den immensen Kosten scheitern. Das muss jedoch nicht so bleiben.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, vielleicht meinen Sie, dass über ein solches Thema nachzudenken eher nicht Aufgabe der KV ist und es insofern auch nicht als Gegenstand eines Leitartikels taugt. Ich denke aber, wir sollten auch einmal ein wenig über den Tellerrand blicken. Bitte verstehen Sie dies in der momentan (auch gesundheitspolitisch) eher schwierigen Zeit nicht als Symptom für einen Rückzug aus der politischen Auseinandersetzung, sondern als Blick in die Zukunft und deren anstehenden Fragestellungen.

In der Hoffnung, eine lebhafte Diskussion auszulösen, verbleibe ich

mit freundlichen kollegialen Grüßen   

Ihr Klaus Heckemann