"Ich bin der festen Überzeugung, dass wir Menschen uns in absehbarer Zukunft keine Sorgen machen müssen, durch künstliche Intelligenz ersetzt zu werden."

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

eine „ähnliche Veränderung der Gesellschaft wie zu Zeiten der Industriellen Revolution im 19. Jahrhundert“: Das sagte Bundesarbeitsminister Heil schon im letzten Sommer für das Zeitalter der künstlichen Intelligenz voraus. Experten schätzen, dass es im Jahr 2035 keine Berufe mehr geben wird, die nichts mit KI zu tun haben. Selbstverständlich – oder ganz besonders – gilt das auch für unsere Zunft.

Spätestens seit der Einführung des Chatbots ChatGPT von OpenAI im November 2022 hat künstliche Intelligenz in die breite Masse und den (Arbeits-)Alltag vieler Menschen weltweit Einzug gehalten. KI ist spürbar, KI ist in aller Munde und KI entwickelt sich immer schneller immer weiter. Höchste Zeit also, dass wir uns mit dem Thema auseinandersetzen und diesen unaufhaltsamen, grundlegenden Wandel aktiv mitgestalten.

Zunächst einmal: Von „der KI“ können wir im Grunde gar nicht sprechen. Schließlich gibt es viele verschiedene Arten und Anwendungen von künstlicher Intelligenz. Jede KI ist speziell für bestimmte Aufgaben entwickelt und trainiert, daher unterscheiden sich ihre Fähigkeiten und Einsatzmöglichkeiten erheblich.

Von maschinellem Lernen, oder auch Machine Learning, haben Sie sicher schon einmal gehört.

Machine Learning ist ein wichtiger Teilbereich künstlicher Intelligenz. Hierbei werden Systeme darauf trainiert, aus historischen Daten und Erfahrungen zu lernen, Muster und Zusammenhänge zu erkennen und basierend auf diesen Analysen, Entscheidungen und Vorhersagen zu treffen. Dabei verbessern sie sich kontinuierlich – ohne dass diese Systeme explizit für jede einzelne Aufgabe programmiert werden müssen.

Deep Learning ist eine spezialisierte Form des maschinellen Lernens und ein zentraler Bestandteil der künstlichen Intelligenz. Es nutzt künstliche neuronale Netze, die dem menschlichen Gehirn nachempfunden sind, um große Mengen an Daten zu verarbeiten und komplexe Muster zu erkennen. Anwendungen des Deep Learning werden besonders bei Aufgaben wie Bilderkennung, Sprachverarbeitung und medizinischer Diagnose eingesetzt.

Wie diese Theorie in der (wortwörtlichen!) Praxis aussehen kann? Grundsätzlich gibt es dafür zwei Anwendungsbereiche: In der Administration sorgt KI für Effizienz und Schnelligkeit – beispielsweise bei der Terminplanung, Abrechnung und Dokumentation. Im Behandlungsprozess dient KI als Entscheidungsunterstützung.

Hier kann ich mit meinen Kollegen mittlerweile aus Erfahrung berichten. Seit zwei Jahren forschen und arbeiten wir in der Radiologischen Gemeinschaftspraxis Chemnitz – als erste Praxis deutschlandweit – mit KI in der Mammadiagnostik.
Dazu werten nicht nur wir selbst die Mammographie-Bilder aus, sondern lassen sie zusätzlich durch ein KI-basiertes Bilderkennungssystem analysieren. Und das mit beeindruckenden Resultaten: Die Einbindung von KI als Entscheidungsunterstützung in die Doppel-Befundung, Konsensus-Konferenz und Abklärungsdiagnostik im Mammographie-Screening-Programm verbessert die Ergebnisqualität signifikant.

So verzeichnen wir:

  • Anstieg um 20,5 % bei der Karzinom-Entdeckungsrate (CDR)

  • Absenkung um 7,5 % in der Abklärungsrate (Recall)

  • Anstieg um 15,9 % im PPV II*

Der Verzicht auf die Doppel-Befundung bei Folgeuntersuchungen mit niedrigem Erkrankungsrisiko hat ein Einsparpotential von 33 Prozent der Befundungskapazität und würde keine signifikante Verschlechterung der Ergebnisse verursachen. Der positive Effekt der KI an dieser Stelle ist also gar nicht, dass wir mehr Patientinnen zu den Untersuchungen einladen. Sondern dass wir – mithilfe des eingeschätzten Erkrankungsrisikos – die „richtigeren“ Patientinnen einladen. Und damit knappe Ressourcen in unserem Gesundheitssystem besser einsetzen; für eine bessere Patientenversorgung.

Innovationen – wie künstliche Intelligenz – für eine bessere Versorgung und Betreuung unserer Patientinnen und Patienten anzuwenden ist nicht nur Kür, sondern Pflicht für uns alle. Übrigens bin ich der festen Überzeugung, dass wir Menschen uns in absehbarer Zukunft keine Sorgen machen müssen, durch künstliche Intelligenz ersetzt zu werden. Allerdings: Diejenigen, die mit KI umgehen können, werden diejenigen ersetzen, die es nicht können.

Trotz all der berechtigten Begeisterung und Euphorie über die bahnbrechenden Anwendungsmöglichkeiten künstlicher Intelligenz: Wir sollten diese Entwicklung auch kritisch begleiten und immer wieder an den richtigen Stellen hinterfragen. Rechtliche Rahmen müssen geschaffen werden, Rechtssicherheit für den Umgang mit KI muss gegeben sein. Ethische Fragen müssen von uns als Gesellschaft neu diskutiert werden, Datenschutz und Datensicherheit wollen beachtet sein. Wir brauchen Transparenz bei der Entwicklung von KI-Systemen, um Ergebnisse oder Empfehlungen nachvollziehen und bewerten zu können. Letztendlich tragen schließlich wir die Verantwortung für unsere Patienten. Und nur indem wir KI verstehen, kritisch hinterfragen und mitentwickeln, werden wir die Vorteile von KI verantwortungsvoll nutzen können.

Es liegt an uns, die Möglichkeiten und Herausforderungen der künstlichen Intelligenz in der Medizin zu erkennen und zu bewerten. Ein Grundverständnis für KI ist erforderlich, um ihren Nutzen voll auszuschöpfen und ihre Grenzen richtig einordnen zu können. Niemals würden wir im Alltag Diagnosen ohne ausreichende Informationen treffen. Ebenso sollten wir uns nicht blind auf neue Technologien verlassen oder sie von vornherein rundheraus ablehnen. Nehmen wir uns die Zeit, uns intensiv mit KI auseinanderzusetzen. Ich kann Sie nur ermutigen: Besuchen Sie Fortbildungen, lesen Sie Fachartikel und tauschen Sie sich mit Experten aus. Eine große Empfehlung meinerseits: Die kostenlosen Fortbildungen des KI Campus (www.ki-campus.org) rund um KI in der Medizin. Denn die Zukunft der Medizin gestalten wir gemeinsam. Lassen Sie uns aktiv an dieser Entwicklung teilhaben.
 
Ihr Klaus Hamm

 

1 positiver Vorhersagewert der nicht-invasiven Abklärung